All or Nothing

Als Skorpioaszendent war mein Lebensmotto bis jetzt eigentlich immer Alles oder Nichts. Mein gesamtes Geld habe ich bisher in meine künstlerischen Projekte gesteckt, vor allem in mein Album. Jetzt wo der erwünschte Erfolg allerdings ausgeblieben ist und ich mich mit Ende dreißig immer noch von Job zu Job hangele, merke ich, dass das so langsam nicht mehr funktioniert. Es wird also Zeit, dass ich mir einen gewissen finanziellen Puffer anspare, um nicht ständig einen existentiellen Druck im Nacken zu haben.
Auf längere Sicht ist auch Promotion nicht mehr tragbar. Auch wenn ich mich gut halte und weiterhin regelmäßig Sport treibe, ist spätestens mit Anfang 40 der Zug in dem Bereich abgefahren. Dazu kommt, dass die Jobs immer schlechter bezahlt werden. Erst letzte Woche habe ich ein Angebot, auf einem Kongress der Firma Siemens zu arbeiten, abgelehnt, weil die zuständige Agentur nur zehn Euro pro Stunde zahlen wollte. Brutto wohl gemerkt. Da muss man noch vierzig Prozent für Renten- und Krankenversicherung und Einkommenssteuer abziehen. Wenn die Aktion für eine lokale, karitative Organisation gewesen wäre wie z.B. für Alles für den Waschbären e.v. hätte ich sicherlich mit mir reden lassen, aber mir für hundert Euro am Tag für den größten, europäischen Elektronikkonzern die Beine in den Bauch zu stehen, ist geradezu lächerlich.
Ein anderer Job, den ich frühzeitig beendet habe, war für den amerikanischen Fitnessarmbandhersteller Jawbone, bei dem ich für neun Stunden effektive Arbeitszeit einhundertzehn Euro bekommen habe. Zwar mit Provision, aber die viel so gering aus, dass ich brutto auch nur auf dreizehn Euro die Stunde gekommen bin. Klar kann man solche Jobs machen, dann aber mit Anfang zwanzig, wenn man studiert und zusätzlich Bafög erhält oder Unterhalt von seinen Eltern bekommt. Nicht aber mit achtzehn Jahren Berufserfahrung. Das kratzt einfach auch am Selbstwertgefühl, weil man seine Leistung nicht wirklich honoriert sieht. Inzwischen hat sich der durchschnittliche Tagessatz für Promotion bei €120-130 eingependelt, was mehr ein Auskommen als ein Einkommen ist. Für mich heißt das, dass ich diese Jobangebote entweder absage oder nur annehme, wenn die Aktion interessant klingt. Ansonsten bleibt mein Ansatz: Grenzen setzen, damit sich neue Türen öffnen können.
Es scheint also ein Scheideweg zu sein, auf dem ich mich gerade befinde. Soll ich mich weiter als Freiberufler durchschlagen oder vielleicht doch im nächsten Jahr eine Festanstellung annehmen? Finanziell wäre ein fester Job nicht besser bezahlt. Der Vorteil ist eher, dass ich eine feste Struktur hätte, eine gewisse Absicherung bei Krankheitsfall und vor allem durch die mit in den Aufagben einhergehenden Verantworung erfüllter wäre. Was würde ich aufgeben? Meine Freiheit und die Zeit, mich voll und ganz auf meine Projekte einzulassen. Zudem kommt, dass ich mit den Dingen des alltäglichen Lebens schon sehr oft überfordert bin und auch meine Ruhepausen brauche. In der Hinsicht war das Modell der 3-Tage-Woche in den letzten Jahren schon sehr passend. Deshalb war sicherlich auch über viele Jahre mein Ziel, mit meiner Musik möglichst viel Geld zu verdienen. Nicht um mich mit materialistischen Krempel zu umgeben und Statussymbole zu häufen, sondern um ein gewisses monatliches Grundeinkommen zu haben, um das machen zu können, worauf ich Lust habe. Die Prämisse ist bis heute noch die gleiche geblieben, auch wenn der große Geldbatzen immer noch nicht in Sicht ist. So habe ich mich in jungen Jahren eigentlich schon ganz gut erkannt und war gar nicht so naiv. Illusorisch war wohl eher der Weg des kompromisslosen Künstlers, der lieber müsliessend Serien auf dem Beamer guckt als hart für seinen Traum zu arbeiten.
Ein weiterer Grund, weshalb ich die Selbsständigkeit gewählt habe, ist die Möglichkeit, immer wieder mit neuen Menschen und Lebenssituationen in Kontakt zu kommen und ständig mein Wissen zu erweitern. Mich interessiert bis heute immer noch wie Menschen ihr Leben leben, was für Entscheidungen sie fällen und warum und wie die Welt funktioniert. In meinem Horoskop ist es die Sonne in Haus 3 (Zwilling) und mein Mond in Haus 9 (Schütze). Also meine Lebensentfaltung über die Kommunikation und geistige Entwicklung zu finden.
Der Einzelhandel hat in seiner jetzigen Form auf jeden Fall ausgedient, so dass ich mich schon daher, längerfristig umorientieren sollte. Der Onlinehandel wird in den kommenden Jahren noch mehr zunehmen. Die großen Versandhäuser wie Amazon werden sowohl ihr Angebot als auch ihren Kundenservice immer mehr ausbauen. Es wird neben Callcentern und auch Chatrooms geben, in den man direkt mit Verkäufern kommunizieren kann. Dazu kommen zu den ohnehin schon vorhandenen Körpermaßtabellen Scanner, die einem die perfekten Maße für jedes Kleidungsstück ausrechnen werden und zu allerletzt gibt es noch den kostenlosen 30-Tage-Umtauschservice. Die großen Kaufhäuser und Elektrofachmärkte werden durch ein komplett virtuelles Einkaufserlebnis in 360 Grad Videos ersetzt, nur dass der Kunde dann die hundertfache Auswahl an Produkten haben wird. Die Post wird in allen Wohnhäusern zusätzlich Paketbriefkästen einrichten und man wird zukünftig bequem über eine App bestellen und anhand des Drohnenlieferservice innerhalb von wenigen Stunden seine gewünschten Artikel direkt nach Hause geliefert bekommen. Somit wird Promotion dann höchstens noch in Form von Callcentern stattfinden oder ganz wegfallen.