Neben der westlichen Astrologie hat mich in den letzten Jahren auch die chinesische Astrologie begleitet, so dass ich inzwischen jeden, den ich treffe, nicht nur nach seinem Sternzeichen, sondern auch nach seinem Geburtsjahr frage. Das wiederum hat zur Folge, dass ich mein soziales Umfeld fast nur noch in Form von chinesischen Tierzeichen wahrnehme und jetzt jedes Mal schmunzeln muss, wenn ich nach mehreren Tagen Abwesenheit wieder mit meinen Kollegen in der Fotoabteilung zu tun habe. Als vorerst letzte Offenbarung auf dem Weg meiner Selbstfindung ist nun auch die Numerologie in mein Leben getreten und hat mich auch gleich fasziniert. Gerade weil es hier im Endeffekt nur neun Archetypen gibt, die man anhand der Quersumme aus dem kompletten Geburtsdatum ermitteln kann. Meine Lebenszahl z.B. ist die Sieben und steht für Leute, die eigentlich nie wirklich in der Gesellschaft Fuß fassen, unabhängig, freiheitsliebend durchs Leben gehen und immer nach der Suche nach neuen Erkenntnissen sind. Sie sind vor allem Beobachter, was mir wieder aufgefallen ist, als ich vor einer Woche am Samstagabend mit einem Freund eine kleine Clubtour gemacht habe und eigentlich in jedem Club nur Tonicwasser nippend an der Bar gesessen habe, während alle anderen getanzt haben. Das kann vielleicht auch an meinem Alter liegen, dennoch kann ich mich noch gut an meine ersten Weggehabende mit siebzehn erinnern, als ich auch die meiste Zeit am Rand der Tanzfläche gestanden habe. Damals dachte ich allerdings noch, dass es eine jugendliche, unsichere Phase war. Zwanzig Jahre später, etwas selbstbewusster und aufgepumpter wird mir nun aber klar, dass ich wohl nie der große Clubgänger sein werde. Mein konsequenter Verzicht auf Alkohol und Nikotin war da sicherlich schon ein frühes Indiz dafür. Somit kann ich wieder eine weitere Illusion loslassen, was zugleich auch eine befreiende Erkenntnis ist. Ebenso ist die Vorstellung, mir von dem Verkauf und den Radiotantiemen meines Debutalbums eine Eigentumswohnung zu kaufen, mittlerweile so real wie der ewige Weltfrieden oder eine pro-russische Berichterstattung des Spiegels. Denn mit den bisher verdienten einhundert Euro kann ich mir gerade ‘mal einen Klodeckel aus dem heimischen Baumarkt leisten. Die restlichen dreihunderttausend Euro müssen dann doch noch irgendwo anders herkommen.
Trotz allem Stress kann ich mich in diesem Jahr nicht beklagen, denn immerhin habe ich endlich mein Album herausgebracht und werde, wenn alles klappt, auch noch mein Songwriting Handbuch veröffentlichen. Ein Projekt, das mich jetzt auch schon seit zwei Jahren begleitet und zudem die Quintessenz meines jahrelangen Selbststudiums darstellt. So gesehen ist es bisher ein sehr gutes Jahr, was wahrscheinlich mit dem geplanten Videodreh in New York zu meiner zweiten Single einen krönenden Abschluss finden wird.
Dennoch sehe ich immer noch viele Dinge in einem Leben, die ich verändern will. Ob nun mein kompaktes zwanzig Quadratmeter Apartment, das ich liebend gern für eine sanierte Dreizimmeraltbauwohnung eintauschen würde. Oder mein Dispo gepeinigtes Konto, welches lieber die Gewissheit hätte, dass ich mich nicht noch die kommenden Jahre ständig von einem Job zum nächsten hangeln muss. Dazu kommt natürlich mein immer stärker werdender Wunsch, nicht weiter allein durchs Leben gehen zu müssen. Als eher introvertierter und unsicherer Mensch ist das Ansprechen von Frauen noch nie wirklich meine Stärke gewesen. Daher hoffe ich, dass es mir mit der Neugründung meiner Band und den damit geplanten Gigs vielleicht leichter fallen wird, jemanden kennenzulernen. Die Illusion loszulassen, nicht unbedingt einen promisken Pornostar in Kalifornien zu heiraten, um emotionale Erfüllung zu finden, wird dem sicherlich auch zuträglich sein.
Ansonsten lebe ich zur Zeit ein sehr fokussiertes Leben, da gerade meine gesamte Kraft in meine Projekte und Jobs geht. Mit meinen Freunden und meiner Familie telefoniere ich hauptsächlich und sehe sie daher nur sporadisch. Aber nach Jahren des Chillens und Versteckens vor der Welt ist das sicherlich eine willkommene Abwechslung. Das ist eine der guten Eigenschaften, wenn man älter wird. Man richtet seine Energie zielgerechter ein. Wenigstens etwas, wenn man schon an allen Ecken und Enden desillusioniert wird.
Das im Hier und Jetzt Leben und sich nicht von der täglichen Routine herunterziehen zu lassen, bleibt neben meinen bipolaren Phasen immer noch meine größte Herausforderung im Leben. So ertappe ich mich regelmäßig dabei auf dem Weg zur Arbeit lieber irgendwo in New York und Vancouver durch die Stadt zu radeln. Dabei hatte ich noch nie so einen gut bezahlten und entspannten Job. Freie Pausen- und Arbeitzeiten und im Schnitt fünfundzwanzig Euro die Stunde um mit gleichgesinnten Leuten meine Zeit zu verbringen und nebenbei auf ein paar Kameras zu beraten. Das werde ich wohl nicht so schnell finden, wenn ich ins Ausland gehe.
Dennoch denke ich, sollte es im Leben immer weiter gehen, da Bequemlichkeit in der persönlichen Entwicklung nicht unbedingt förderlich ist. Die Frage ist nur, wann entwickelt man sich weiter und wann flüchtet man vor sich selbst und schiebt Dinge nur weiter auf. Denn eine Routine wird auch im Ausland irgendwann kommen und eine einhundertachtzig Gradwendung in Bezug auf meine Ängste auch nicht einfach passieren, nur weil ich meinen Wohnort wechsle. In solchen Momenten der Tagträumerei und Selbstzweifel fällt mir oft das Zitat des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr ein: God grant me the serenity to accept the things I cannot change, courage to change the things I can and wisdom to know the difference.