Rückblickend hatte ich mir das Jahr der Schlange, das Zeichen für Introvertierheit und Rückzug, etwas entspannter vorgestellt. Aber das hat Veränderung wohl so an sich. Viel ist auch passiert. Der Rechtsstreit mit den Verlagen ist endlich beigelegt, dazu habe ich eine eigene Wohnung gefunden und mein Album fertiggestellt. Aber als jemand, der immer nur das sieht, was er noch nicht erreicht hat, überkommt mich zum Jahresende dennoch wieder ein Gefühl der Unzufriedenheit. Es scheint, dass mit jedem weiteren Schritt in der Verwirklichung meiner Träume weitere Illusionen platzen, die ich vorher noch nicht gesehen habe. Dazu kommt, dass in diesem Jahr mit Dexter, Breaking Bad, Homeland und Nikita gleich vier meiner Lieblingsserien geendet sind. Serien, die in den vergangenen Jahren nicht nur meine ständigen Begleiter waren, sondern mir auch gleichzeitig, wenn auch fiktiv, ein soziales Umfeld geschaffen haben, das nun nicht mehr da ist.
Jetzt wo also nicht nur die erhoffte Million mit Mitte dreißig, sondern auch die Welttournee mit den Groupies ausgeblieben ist, ich immer noch zur Miete wohne und meine Einkäufe selber machen muss, lerne ich weiterhin, die einfachen Dinge im Leben zu schätzen. Dabei hilft mir vor allem mein Hauswart, der mit Anfang sechzig seinen Lebensabend zufrieden in seiner zugestelllten zwanzig Quadratmeter Wohnung fristet. Detlef wacht mit seinen einhundertdreißig Kilo Körpergewicht ruhend über das Haus und ist für mich in seinem funktionalen Schlabberlook der Inbegriff von Selbstbewusstsein, von dem ich mir auf jeden Fall noch eine Scheibe abschneiden kann. Wir haben mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, da er immer alle meine Amazonpakete annimmt, wenn ich nicht da bin. Im Gegenzug helfe ich ihm und einem seiner Freunde beim Einrichten ihrer Computer.
Burkhard ist in etwa sein Alter und wohnt mit seinen zwei Kanarienvögeln in einer kleinen Einzimmerwohnung in einem alten Hochhaus mit Blick auf die Jungfernheide. Aufgrund seines Alkoholproblems lebt er frühpensioniert von einer kleiner Rente, die ihm gerade ‘mal ermöglicht, mit dem Nötigsten auszukommen und neben seinem Fernseher scheint der Tabak, den ihm Detlef einmal im Monat aus Polen mitbringt, sein einziger Lebensinhalt zu sein. Das Haus erinnert an George A. Romero’s Land of the Dead und schnürt mir mit seiner entseelten Ausstrahlung jedes Mal die Kehle zu, wenn ich es betrete. Nur noch bedrückender als die leeren, gesenkten Blicke der fast leblos vor sich hinschlurfenden Rentner, die einem in den schmalen Gängen begegnen, sind die regelmäßig wechselnden Aushänge im Fahrstuhl, auf denen zu einem Zusammensein mit musikalischer Begleitung eingeladen wird.
Bei meinem letzten Besuch erzählte mir Burkhard ganz stolz, dass sein Adventskalender vom Discounter laut einem Test die mit Abstand beste Schokoladenqualität besitzt und viel besser ist als die ganzen überteuerten Versionen, die es sonst noch zu kaufen gibt und freute sich zugleich, dass er an dem Tag ein besonders großes Stück Schokolade hinter seiner Adventstür hatte.
Mein Lektion in Demut sollte aber an diesem Tag noch kein Ende haben, denn auf unserem Weg zum Parkplatz meinte Detelf nur: ‘Also, wenn du ‘was wirklich Depremierendes sehen willst, dann komm’ mit zu dem Altersheim, in dem ich zwei Jahre gewohnt habe und in psychiatrischer Behandlung war, kurz nachdem meine Lebenspartnerin gestorben war. Einer meiner Tischnachbarn hat heute Geburtstag und ich wollte ihm noch eine Torte und eine Schachtel Zigaretten vorbeibringen.’
Das Zimmer in dem Altersheim war nicht viel größer als das von Burkhard, nur dass sich dort gleich drei Männer die wenigen Quadratmeter teilten. Einer der drei, der gleich in dem Bett neben der Tür lag, schlief anscheinend gerade seinen Rausch aus und war eigentlich gar nicht ansprechbar. Seine zwei Mitbewohner hingegen saßen gut gelaunt im Dunst ihrer Zigaretten und spielten Karten. Man konnte sie kaum verstehen, als sie uns begrüßten, da ihre Stimmen aufgrund des Dauernikotinkonsums schon fast nicht mehr zu hören waren. Einer der beiden benutzte sogar schon eine elektronische Sprechhilfe, die er über das Pflaster an seinen Kehlkopf presste, als er mit uns sprach, was vermuten ließ, dass seine OP noch nicht allzu lang her gewesen war. Mir wurde daraufhin wieder ‚mal klar, dass man die absurden Momente auch zur Genüge im Alltag finden kann und dazu nicht unbedingt Filme von David Lynch und den Coen Brüdern sehen muss. Nach ein paar gewechselten Sätzen verließen wir dann aber auch schon das Altersdomizil und ich war froh, bald wieder in meiner Wohnung zu sein, die mir auf einmal gar nicht mehr so klein vorkam.