Als ich vor knapp drei Jahren in Kreuzberg die Wohnung eines Freundes zur Zwischenmiete übernommen habe, hätte ich wohl nicht gedacht, dort so lange zu bleiben. Die Zeit rennt dann doch schneller und der Alltag lenkt einen mehr ab, als man denkt. Da man sich im Leben aber immer weiterentwickeln soll, bin ich mit sechsunddreißig erst ‚mal wieder bei meiner Mutter eingezogen und genieße jetzt in der Wohnung vor allem die Ruhe. Kein jugendliches Herumgepöbele am Abend mehr, keine lauten, getunten Motorräder, die einem den Schlaf rauben und keine Eraserhead Kinder mehr, die den schmalen Grat zwischen surrealer Fiktion und Wirklichkeit zum Verschwimmen bringen. Nur die neu gefundene Stille sollte nicht lange halten, als ich heute früh von dem Gebrüll und den Schlägen des russischen Zuhälters aus der Souterrainwohnung im Haus geweckt wurde. Die Wohnung im Untergeschoss dient schon seit geraumer Zeit als Unterkunft für junge Prostituierte, die mehrere Male am Tag abgeholt und später wieder abgesetzt werden. Sie haben sich ihre Chance auf ein besseres Leben bestimmt auch anders vorgestellt, als sich jetzt jeden Tag sexuellen Gefälligkeiten hingeben zu müssen. Die mit Spanplatten verbarrikadierten Fenster, durch die eh schon kaum Tageslicht kommt und die alten, auf dem Boden verteilten Matratzen in ihrem Etablissement strahlen zudem nun auch nicht gerade die totale Gemütlichkeit aus. Es scheint also, dass die dunkelen Seiten des Lebens jetzt auch nicht mehr vor dem gediegenen Schmargendorf Halt machen. Wobei die Ausbeutung und Misshandlung junger osteuropäischer Mädchen da nur ein Beispiel ist. Auf der anderen Seite gibt es noch die Habgier der Menschen, für die u.a. auch der neue Eigentümer des Hauses steht, in dem meine Mutter schon seit über sechsundzwanzig Jahren wohnt. Das Mietshaus, welches seine Frau als eines von vielen vor Jahren geerbt hat, besteht inzwischen fast nur noch aus Eigentumswohnungen, weil alle Wohnungen, sobald ein Mieter ausgezogen ist, von ihm sofort verkauft wurden. Meine Mutter ist nun fast die einzige, die noch zur Miete wohnt und aufgrund eines alten Vertrages mit noch einer verhältnismäßig geringen Miete dem Besitzer natürlich ein Dorn im Auge. Aus diesem Grund versucht er seit drei Jahren mit allen Mitteln den aktuellen Mietpreis hochzutreiben und zieht dafür auch regelmäßig vor Gericht. Sein letzter Coup war es, ihr angeblich notwendige Modernisierungsmaßnahmen in Höhe von über zwanzigtausend Euro aufzubürden, die u.a. beinhalten, das komplett mit italienischem Marmor geflieste Bad herauszureißen und mit Keramikfliesen zu ersetzen. Völlig haltlos und absurd und nur ein weiterer Schritt, sie aus ihrer Wohnung zu treiben.
Damit ich die weiteren Kosten meiner Albumproduktion finanzieren kann, bin ich zur Zeit mehr als sonst im Hamsterrad eingebunden und habe daher gerade zehn Tage am Stück Promotion für Asus Computer gemacht. Glücklicherweise hatte ich meine eigene Präsentationsfläche mit einer gepolsterten Sitzbank und konnte so die meiste Zeit sitzend und Beine baumelnd die interessierten Kunden beraten. Wieder ein Beleg dafür, dass ich im Herzen doch ein fauler Hund bin, der, wenn möglich, immer den bequemen Weg geht und für mich Arbeit eigentlich mehr ein notwendiges Übel als eine erfüllende Berufung ist. Auch wenn es ganz schön war, zur Abwechslung eine gewisse Struktur und ein vertrautes, soziales Umfeld zu haben, war ich heilfroh, als der Einsatz vorbei war. Nach einer Weile nämlich kommt man in so einen drögen Trott, dass man die Beratungen nur noch in einem tranceartigen Zustand macht und quasi neben sich steht und sich dabei zusieht wie man die gleichen Fragen zum hundertsten Mal beantwortet. Bei dem ziemlich geringen Tagessatz waren mein Engagement und meine Motivation zudem eh sehr begrenzt. Ganz im Gegensatz zu meinen Kollegen, die den ganzen Tag bemüht sind, möglichst viele der überteuerten Media-Saturn eigenen Versicherungen abzuschließen, für die sie allerdings kein zusätzliches Geld bekommen, sondern als Belohnung auf der monatlichen Rangliste der besten Verkäufer einen Platz aufrücken können. Ebenso wenig kann ich die Freude der meisten Mitarbeiter teilen, wenn sie sehen, dass der Geschäftsführer gut gelaunt durch die Abteilung läuft. Mir ist schon klar, dass er sich vermutlich freut, weil er weiß, dass er am Ende des Geschäftsjahres wieder einer Ausschüttung einer sechsstelligen Summe entgegenblicken wird, da im Gegensatz zu den Angestellten, die mit einem monatlichen Mindestlohn abgespeist werden, bei Media-Saurn die Geschäftsführer kein Festgehalt, sondern eine Umsatzbeteiligung bekommen.
Neben der kapitalistischen Unternehmensstruktur wurde mir während der Promotion auch wieder bewusst wie stark doch der Unterschied zwischen den Generationen ist. Die heutige Jugend, die anscheinend nur noch Facebook und YouTube fixiert durchs Leben geht, war an meinem Stand natürlich auch wieder reichlich vertreten. Auf diese Weise hatte ich schon nach ein paar Tagen eine Stammkundschaft von Teenager, die immer direkt nach der Schule zu mir kamen, um kostenlos im Internet zu surfen. Was vollkommen legitim ist, nur dass, wenn Kauf interessierte Kunden zu den Notebooks kamen, sie diese dann warten ließen, weil sie noch ihren Facebook Chat zu Ende führen mussten. Eine Verhaltensweise, die an Respektlosigkeit wohl kaum noch zu überbieten ist und die ich mir als Jugendlicher Erwachsenen gegenüber niemals geleistet hätte. Eine ähnliche dreiste Erfahrung habe ich vor kurzem mit einer meiner Anzeigen bei dem Ebay Kleinanzeigenportal gemacht, auf dem ich gerade eine nagelneue Casio G-Shock Uhr anbiete, die ich im Rahmen eines Agentur internen Wettbewerbs bei einer meiner letzten Promotions gewonnen habe. Der Neupreis der Uhr liegt im Schnitt bei einhundertzwanzig Euro, so dass ich sie für achtzig Euro inseriert habe. Dennoch bekomme ich jetzt regelmäßig Anfragen mit Angeboten, mir für die Uhr vierzig Euro zu zahlen. Ich antworte dann eigentlich nur noch: ‘Und ich hätte gern einen Blowjob von Cobie Smulders.’ Denn Wünsche haben wir alle viele. Ob diese auch in Erfüllung gehen, ist eine andere Frage.