Mein Sommer in diesem Jahr war nicht so wirklich spannend. Da zur Zeit jeder Cent in meine Albumproduktion fließt, standen auch keine großen Reisen auf dem Plan. Aus diesem Grund war ich umso begeisterter, als mir mein Produzent vor einer Woche von seiner Kanutour berichtete, die er mit seiner Freundin am Wochenende zuvor gemacht hatte. Kurz entschlossen fuhr ich daraufhin am letzten Donnerstag mit zwei Freunden nach Rheinsberg, um uns dem Rafting Abenteuer im Brandenburger Umland zu stellen. Es war eine schöne Möglichkeit, ‚mal wieder aus dem Alltagstrott herauszukommen und seinen Kopf freizubekommen. Die Hinfahrt führte uns durch kleine Ortschaften, die oft nur aus einem Asia-Döner Imbiss und dem obligatorischen italienischen Eiscafé bestanden. Als wir durch die menschenleeren Straßen fuhren, entlang der mit dem charmanten grauen DDR Putz überzogenen Häuser, wurde mir wieder klar, dass ich in so einem kleinen Ort niemals wohnen könnte. Sicherlich weil ich da dann umso mehr mit meinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert werden würde und mir bewusst werden würde, dass ich oft nicht wirklich am Leben teilhabe.
In Rheinsberg beim Kanuverleih angekommen hackte der Besitzer gerade Holz für sein durch Öfen beheizbares Haus. Er war so Mitte fünfzig, hatte graues, langes Haar und trug eine vergoldete Kette, die er sich aus seinem letzten Urlaub in Ägypten mitgebracht hatte. Eigentlich gelernter Ingenieur und früher im Atomkraftwerk in Rheinsberg arbeitend, eröffnete er den Kanuverleih gemeinsam mit seiner Frau, als dieses vor zwanzig Jahren zugemacht wurde. Er war sichtlich stolz auf seinen autarken Lebensstil, als er uns die eigene Kläranlage zeigte und Werbung für seine selbstgebackenen Brötchen machte. Wir hatten alle drei trockene Anziehsachen mitgenommen, falls wir doch ins kalte Wasser fallen würden. Als diese zusammen mit unserem Picknickproviant in dem wasserdichten Container verstaut waren, ging es in die schmalen Plastikboote. Lena und Filipe teilten sich einen Zweierkajak, was später noch zu vielen verzweifelten und komischen Momenten führen sollte. Ich als freiheitsliebendes Einzelkind hatte einen Einerkajak, mit dem ich am Anfang ganz schön herumeierte, da ich immer Angst hatte gleich ins Wasser zu fallen. Also ‚mal wieder eine gute Übung, loszulassen und wenigstens für ein paar Stunden die Kontrolle abzugeben. Die gesamte Tour ging siebzehn Kilometer stromabwärts und dauerte mit einer kleinen Pause ungefähr fünf Stunden. Die Rhin, der Fluß, auf dem wir uns befanden, schlängelte sich ziemlich verzwickt durch die Brandenburger Wälder, so dass wir ganz schön manövrieren mussten, um nicht ständig ans Ufer gespült zu werden oder auf einer der Sandbänken aufzulaufen, da der Wasserspiegel sehr tief lag. Neben der serpentinenähnlichen Strecke lagen auch alle hundert Meter umgefallene und umgeknickte Baumstämme im Wasser, die die ansonsten doch sehr ruhige Fahrt zu einem wirklichen Abenteuer machten. Die gute Luft und die beruhigende Stille entlohnten uns allerdings mehr als genug für die anstrengenden Momente. Als wir die Hälfte der Strecke halbwegs trocken hinter uns gebracht hatten, machten wir an einem der grünen Flußufer eine Picknickpause. Während wir genüsslich in unsere selbstbelegten, mitgebrachten Brote bissen, riss der bisher sehr bewölkte Himmel auf und warme Sonnenstrahlen schienen uns ins Gesicht. Es war ‚mal wieder einer dieser schönen, vollkommenen Momente, wie ich ihn zuletzt am Liebnitzsee erlebt hatte. Nach knapp fünf Stunden wilder Odyssee hatten wir endlich schon völlig erschöpft das Ende der Route erreicht. Filipe und Lena waren durch ihre etwas unkonventionelle Rudertechnik inzwischen völlig durchnässt und wechselten gleich ihre Sachen. Bis auf ein paar fluchende Momente hatten wir uns aber alle drei ganz wacker geschlagen in der eigensinnigen Brandenburger Strömung.
Auf dem Rückweg nach Berlin schalteten wir das Radio an, um uns ein wenig abzulenken. Aber vor allem auch, um uns wach zu halten, da wir doch nach dem langen Tag ziemlich ausgepowert waren. Ich war wieder erschreckt, wie schlecht die Musik im Radio ist und wie belanglos das Geschwätz der Moderatoren. Selbst die Nachrichten waren nicht wirklich spannend, geschweige denn informativ und entbehrten oft auch nicht einer gewissen Komik, da nur wieder pauschal über Themen berichtet wurde, deren Ausgang eh schon jeder kennt, wie z.B., dass der iranische Präsident beim Natogipfel wieder gegen die U.S.A. gehetzt hatte. Als dann noch die Willkommensrede des Bundespräsidenten für den Papst Wort für Wort vorgelesen wurde, die mit den Worten begann: “Sie, Heiliger Vater, kommen in Ihr Heimatland …”, war ich mir für einen Moment nicht so sicher, ob sich die A-Klasse meiner Mutter nicht gerade in einen DeLorean verwandelt hatte und wir vielleicht zurückkatapultiert worden waren in die sechziger Jahre. Einen ähnlichen Moment hatte ich dann noch, als ich bei mir am gleichen Abend über dreißig Minuten einen Parkplatz suchte, da die Polizei dort nicht nur mit Absperrungen und mindestens zwanzig Mannschaftswagen aufwartete, sondern auch sämtliche Straßen rund um die Hasenheide abgesperrte hatte, um die Diözese des Papstes zu bewachen.
Jetzt haben wir schon Oktober. Die Zeit rennt immer mehr. Mittlerweile denke ich schon daran, was ich vor einem Jahr gemacht habe und es kommt mir gar nicht vor, als ob schon wieder zwölf Monate vergangen sind. Das ist wohl wieder ein Teil des Älterwerdens. Die Verpflichtungen steigen und die schönen Momente relativieren sich immer mehr. Wenn ich nicht mit den Aufnahmen zu meinem Album beschäftigt bin, stehe ich immer noch jeden Freitag und Samstag für Casio Digitalkameras im Media Markt am Alexanderplatz. Ich kann mich nicht wirklich beschweren, da das Arbeiten entspannt ist und es bis jetzt einer meiner coolsten Jobs ist. Dennoch bekomme ich regelmäßig depressive Anwandlungen, da ich mir noch vor zehn Jahren sicherlich nicht vorgestellt habe, mit fünfunddreißig hauptberuflich als Verkäufer zu arbeiten. Wobei ich die Zeit doch viel effektiver nutzen könnte, um meiner wahren Bestimmung zu folgen, nämlich jeden Tag herutergeladene TV-Serien und Kinofilme zu gucken, in der unbeirrbaren Hoffnung, dass irgenwann alles besser wird.