Der Sommer ist da. Endlich. Ich finde es jedes Jahr aufs neue erstaunlich, wie entspannt und leicht der Alltag sein kann, wenn einfach nur die Sonne scheint und die Tage länger sind. Alles fällt einem leichter und das Leben in all seinen Möglichkeiten ist dann immer völlig überwältigend, dass ich es kaum verkraften kann. Nicht nur die Vuvuzelas schreien jetzt also aus jeder Ecke und alle sind im WM Fieber. Die Stadt brodelt förmlich und es entsteht auf einmal ein Gemeinschaftsgefühl, das ich in Deutschland so oft vermisse. Selbst als totaler Fussballverweigerer kann man sich der Euphorie nicht wirklich entziehen, da mittlerweile jedes Café und Restaurant einen Flatscreenfernseher bei sich stehen hat. Selbst mein türkischer Zeitungshändler um die Ecke karrt zu jedem Deutschlandspiel seinen Samsung LCD Fernseher ‚raus und fiebert dann mit gesamter Familie und vorbeiziehenden Leute mit der DFB Elf mit. Ein Grund für das neugefundene Gemeinschaftsgefühl ist sicherlich die multikulturelle Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft, durch die sich vor allem die türkischen Landsleute wieder mehr mit Deutschland verbunden fühlen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die WM Begeisterung in diesem Jahr noch stärker ist als in den Jahren zuvor. Es scheint wirklich, dass die Nation den WM Titel braucht. Vielleicht als Selbstbestätigung für das durch die wirtschaftliche Rezession geknickte Selbstbewusstsein. Die finanzielle Sicherheit verfällt so langsam, Fonds sind nichts mehr wert, Immobilienpreise stagnieren und selbst die verfügbaren Goldreserven schwinden. Nur ALDI senkt die Preise. Angela Merkel hat sich die Zusammenarbeit mit dem ständig unsicher grinsenden, spießigen Unternehmer sicherlich auch anders vorgestellt. Dazu tritt der Bundespräsident beleidigt zurück, weil er sich von Koalition und Opposition respektlos behandelt fühlt. Die deutschen Tugenden wie Geradlinigkeit, Pflichtbewusstsein und Disziplin stehen scheinbar auf der Kippe und die Fussball WM ist in diesem Jahr mehr als nur Ablenkung, sondern wird immer mehr zum Fundament des deutschen Selbstwertgefühls.
Da mir Fussball normalerweise doch ziemlich am Arm vorbei geht, wollte ich mir während der WM aber wenigstens die Spiele der deutschen Elf angucken und bin deshalb zu einigen öffentlichen Vorstellungen gegangen. Einer der coolsten Orte ist ‚Charlie’s Beach‘, eine Beach Bar direkt am Checkpoint Charlie. Das gibt es auch nur in Berlin. Inmitten überteuerter Souvenirläden, gestylten Großraumbüros und amerikanischen Franchiseunternehmen, ein auf einer Baustelle gelegenes Bierlokal. Touristen aus aller Welt und Berliner aus allen angrenzenden Bezirken starren dort zusammen gebannt auf die übergroße Leinwand und drücken ihren Mannschaften die Daumen. Vor zwei Wochen wollte ich dann das Viertelfinalspiel Deutschland gegen Argentinien sehen und habe mich dafür mit Freunden in der 11 Freunde Bar im Astrakulturzelt verabredet. Leider hatten die Idee auch mehrere hundert andere Leute und ich kam nicht mehr ‚rein, da schon alle Plätze belegt waren. Auf dem Weg zurück zu ‚Charlie’s Beach Bar‘, hielt ich dann kurzerhand noch vor einem Freilichtlokal in Friedrichshain, um wenigstens die erste Halbzeit live mitzuerleben. Friedrichshain. Der trendige Bezirk der langweiligen Weicheier und der Pseudopunks. Ein krasses Vorurteil. Ich weiß. Aber da stand ich nun allein inmitten lauter fusselbärtiger Schlümpfe im individuell uniformen Schlabber-Schlurflook und dicker Punkrocker mit übergroßen Tattoos an Beinen und Armen. Irgendwie liebenswert in ihrer Bemühtheit, cool zu sein, aber auch total langweilig, so dass ich mich dort nicht wirklich zugehörig fühlte. Den genauen Grund, warum der Schlumpfanteil im Ostteil der Stadt größer ist, als im Westen ist mir immer noch ein Rätsel. Vielleicht kann man sich, wenn man in der sozialistischen, heilen Scheinwelt großgezogen und dann zum Mauerfall völlig unvorbereitet in den kapitalistischen Westen katapultiert wurde, dem Schlumpfdasein nicht wirklich entziehen.
Die WM ist nun mittlerweile vorbei. Paul, das Krakenorakel hat sich um den Grill getippt, die deutsche Mannschaft ist zum wiederholten Mal mit einem soliden dritten Platz ‚Weltmeister der Herzen‘ geworden und ich schlage mich weiterhin mit Promotionjobs durch die andauernde Rezession, die natürlich auch nicht vor dem Sommer Halt macht. Ein Job ist eine Imagekampagne für Alpina Weiß, bei dem ich im Raum von Berlin vor Baumärkten stehe und Kinder dazu animiere, auf eine Torwand zu schießen. Diese können dann Tüten mit zusammengeschmolzenen Gummibären oder undichte Wasserbälle zu gewinnen. Die Aktion klang anfangs ganz interessant, aber bei vierzig Grad sieben geschlagene Stunden in der prallen Sonne zu stehen, um Leute zu begeistern, die entweder schon im Urlaub sind oder nicht vorbeikommen, weil es viel zu heiß ist, ist nicht so der Burner. Eher der Sunburner. „Tim … und was machst du jetzt so mit vierunddreißig?“ „Oh, da oben ein Vogel. Ein Greif!“
Das einzig Interessante an der Aktion, wie auch bei den meisten meiner Jobs, ist, dass ich ständig schräge Existenzen treffe, wie z.B. Viktor, den Autopoliturverkäufer, der den ganzen Tag über den Parkplatz schleicht, um dort schwarz sein Ware zu verticken und dabei wirkt wie der Typ mit dem Mantel in der Sesamstraße. Dann gibt es noch den achtzehnjährigen Dennis, der vor einem Jahr seine Ausbildung bei Getränke Hoffmann abgebrochen hat, weil er sich mit zweihundertfünfzig Monatsgehalt und ständigen Überstunden ausgebeutet fühlte und nun inzwischen seine eigene Imbissbude vor dem OBI Baumarkt in Zehlendorf betreibt, mit der er im Monat seine viertausend Euro Netto macht. Da habe ich Freunde in meinem Freundeskreis, die zehn Jahre studiert haben und nicht einmal ein Viertel von dem verdienen. Mich inbegriffen. Wenn man introvertiertes Selbststudium vor dem Beamer mit dazuzählt.