Lidl Days

Der Sommer in England ist nicht wirklich heiß, aber wenigstens hatten wir für die letzten Tage keinen Regen. Mein Alltag hier war auch schon einmal spannender. Ich verbringe jeden Tag in der Uni Bibliothek und kaufe nur noch bei Lidl ein, da meine Ebay Millionen so langsam im rezessiven Sommerloch versinken. Ich habe schon lange nicht mehr so herumgenapst. Andererseits passt das Gefühl ganz gut zu meinem neu gefundenen Studentenleben. Dafür ist die Stimmung im Haus zur Zeit ganz gut. Selbst unser dauerstreitendes Paar bemüht sich um einen gewissen sozialen Umgang. Ich weiß nicht so recht, ob es daran liegt, dass ich bald ausziehe oder daran, dass einfach die Sonne scheint. Nach dem ganzen letzten Jahr wird mir wieder einmal klar, dass man im Leben immer Menschen anzieht, die sich in einer ähnlichen Lebenssituation wie man selbst befinden und so ein guter Spiegel für sein eigenes Leben sind. Eigentlich ist niemand wirklich zufrieden in meiner WG. Ian sitzt jede freie Minute vor dem Fernseher, wenn er nicht bei der Arbeit ist. Nachts träumt er sicherlich von den knackigen Surfer Girls, die als lebensgroße Plakate in seinem Zimmer hängen. Lukas und Katrina teilen sich ein enges Zimmer, hängen beide in einem Job fest, der ihnen keinen Spaß macht und sparen auf eigene Wohnung in Polen, obwohl sie dort eigentlich keine wirkliche Chance auf eine gut bezahlte Arbeit haben. Ebenso wie Ian verlassen sie nie ihr Zimmer. Auch nicht am Wochenende. Bei ihnen läuft immer Musik, die ich vor zwanzig Jahren gehört habe. Als ich einzog war es das Debutalbum von Whitney Houston, danach Guns ‘n Roses’ Use your Illusion und jetzt Portishead’s Dummy. Wie Claude schon meinte, als er mich hier besuchte: “Die Polen hängen doch immer zwanzig Jahre hinterher.” Sim und Gemma leben das Working Class Cliché. Tagsüber malochen beide in unterbezahlten Part Time Jobs und ihre Abende sind gefüllt mit fettigem Fast Food, Fernsehen und nächtelangen Play Station Sessions. Sim’s Fernstudium bleibt dabei auch ganz schön auf der Strecke, vor allem weil er immer Ausflüchte findet, nicht zu lernen. Entweder sind es “Extra Hours at Morissons” oder Kuriergänge für seine Freundin. Und dann ist da noch der vierte, agoraphobische Träumer im Bunde. Obwohl ich zum ersten Mal in meinem Leben einen wirklichen Plan habe, der vor allem wirklichkeitsnaher ist als mit drei unfertigen Demosongs Plattenmillionär zu werden und Kim Basinger zu heiraten, war ich doch vor einem Jahr noch ziemlich verpeilt, was meine weitere Lebensplanung anging. Ich werde also langsam erwachsen und verliere weiter meine Illusionen, die ich mir über so viele Jahre mühevoll aufgebaut habe. Trotz aller Nüchternheit bekomme ich trotzdem weiterhin meine wahnsinnige Ideen wie z.B. im nächsten Jahr nach Brooklyn, New York zu ziehen, um Anne Hathaway zu treffen.
Vor ein paar Tagen war ich im Kino und habe Jared meine Stroboskop Lichter vorbeigebracht. Das Showcase Cinema ist mit das modernste Kino in Bristol, etwa vergleichbar mit dem Cinestar im Sony Center. Alle Angestellten sind in Anzug und Krawatte gekleidet. Es ist fast so, als würde man in die Oper gehen. Da er nicht da war, fragte ich den Manager, ob ich die Sachen hier lassen könne. Der Chef war ein leicht verbauter, dicklicher, milchgesichtiger Mitte zwanzigjähriger in einem schlecht sitzenden Primark Anzug, der durch das Foyer stolzierte, als ob er Kaiser in China wäre. Erst nachdem sein Adjutant ihn mehrmals flehentlich fragte, gab er zögernd und missmutig sein Einverständnis. Schön, dass die wichtigen Schlümpfe nicht aussterben. Auch nicht in Bristol.
Wenn ich nicht gerade für meine Apple Trainerprüfung lerne, bastle ich weiterhin an meinen Songtexten. “The devil is in the detail.” Zu deutsch etwa: “Man kann es sich auch schwer machen.“ Aus diesem Grund habe ich mich letzte Woche mit Gerard, einem meiner Dozenten getroffen, der als Dichter angefangen hat und erst später zur Musik gekommen ist. Seine Songs gehen in Richtung R.E.M.. Er ist auch ganz stolz darauf, da Michael Stipe seine Band Blue Aeroplanes mit als eine seiner Haupteinflüsse nennt. Aus dem anfänglichen einstündigen Tutorial wurde schnell ein ganzer Nachmittag und wir sprachen unter anderem auch über die britische Mentalität. Er meinte daraufhin nur: “What do you expect? That’s England.” und erzählte mir von einer der besten Freundinnen seiner Mutter, die mit ihr jede Woche stundenlange Gespräche vor deren Haus hielt, aber sie nie zu sich einladen würde. Erst nach vielen Jahren trafen sie sich dann einmal in ihrer Wohnung. Von dort an bekam seine Mutter jedes Jahr Weihnachts- und Geburtstagskarten. Sie war quasi in ihre Famile aufgenommen worden. Ein Grund für die Reserviertheit ist vermutlich, dass vor fünfzig Jahren die Briten noch zehn bis zwölf Stunden am Tag gearbeitet haben. Die eigene Wohnung war mehr ein Ort zum Schlafen und Essen als zum Leben. Um sich zu treffen, ging man in den Pub. Ein weiter Grund ist sicherlich auch das miserable Wetter. Ich bin mir sicher, wenn in England Orangen an den Bäumen wüchsen, wären die Leute auch offener. Es wirkt fast so, als ob die Briten verlernt haben, zu leben. Wo sonst sind panierter Fisch mit Pommes Frites und Rindfleisch in Blätterteig das Nationalgericht. Ein weiteres Thema, über das wir sprachen, ist das immernoch verbreitete Hierarchiedenken der Briten. Bis heute haben alle Politiker und Leute in wichtigen, staatlichen Positionen an den elitären Unversitäten Oxford, Cambridge oder Eaton studiert. Jeder misst sich ständig mit dem Stand der anderen in der Gesellschaft, sei es durch Sprache, Kleidung oder Bildung. Das wird besonders in Bewerbungsgesprächen klar, in denen garantiert gefragt wird, an welcher Schule man war, an welcher Universität man studiert hat und welche Berufe, die Eltern haben. Gerade die staatliche Institutionen sind immer noch sehr aristokratisch geprägt. So bekommen nur künstlerische Bereiche wie Oper, Theater und Ballett staatliche Förderungen. Pop Musik ist da vollkommen ausgenommen. Was absurd ist, da England neben Amerika in seinem Einfluss weltweit der zweitgrößte Musikmarkt ist und die Musikindustrie ein großen Teil des Bruttoinlandsprodukt Englands ausmacht. Aber Unterhaltungsmusik ist weiterhin verpönt, so dass im englischen Fernsehen Musiksendungen vorwiegend von Komikern moderiert werden, um eine Brücke zum seriösen Theater zu schlagen.
Ich habe nach meinem Jahr Englandaufenthalt also sechs essentielle Dinge gelernt: Das Wetter hier ist beschissen. Der Brite ist reserviert, nicht besonders gut aussehend, säuft, liebt schlechtes Essen und lebt die Aristokratie nicht nur auf dem Papier. Mit anderen Worten: Alle Vorurteile sind bestätigt.