Amritsar. Die einzige Stadt in Indien an der pakistanischen Staatsgrenze und mit eine der größten Städte im Punjabi Staat im nord-westlichen Teil von Indien. Wie fast alle indischen Staaten hat Punjab auch seine eigene Sprache und Schrift. Insgesamt gibt es achtzehn offizielle Sprachen und zwölf Schriftarten in Indien, von denen Hindi die amtliche Hauptsprache ist und Devanagari die offizielle Schrift. Das gibt einem wieder einen guten Eindruck wie groß das Land eigentlich ist. Ich bin jetzt schon seit zwei Tagen an meinem letzten Reiseziel, bevor es wieder zurück geht nach Europa. Das Lucky Guest House ist bis jetzt das komfortabelste und sauberste Hotel, in dem ich war. Ein Riesenzimmer mit Blick auf den goldenen Sikh Tempel, eigenem Bad, drei großen Betten zur Auswahl und ausgestattet mit einer Klimaanlage, in dem die Übernachtung nur fünfzehn Euro kostet. Ich weiß jetzt schon, dass ich das Preis-Leistungsverhältnis hier vermissen werde. Heute früh war ich in einer Coffee Bar und habe für nur zwei Euro einen Schokoladen Milchshake mit vegetarischem Sandwich bestellt. Mir graut es schon vor meinem Zwischenstopp in Paris, bei dem ich sicherlich mehr Geld ausgeben werde, als hier in einer ganzen Woche.
Gestern Nachmittag war ich an der pakistanischen Grenze, um das Grenzritual zu sehen, das in Amritsar eine der größten Attraktionen und Einnahmequellen ist. Jeden Morgen und jeden Abend wird die Grenze zu Pakistan geöffnet und geschlossen. Das Ganze ist begleitet von einer einstündigen Zeremonie, bei der auf beiden Seiten mehrere Tribünen aufgebaut sind, auf denen Hunderte von Zuschauern sitzen, singen und applaudieren. Es wirkt wie ein Fußballspiel. Die Grenzsoldaten fungieren dabei als Spieler, die sich die lustigsten Bewegunbgsabläufe ausgedacht haben und sich dabei sehr ernst nehmen. Eigentlich wird aber nur die indische Nationalflagge morgens gehisst und abends wieder eingeholt. Davor gibt es Fahnenläufe von weiblichen Zuschauern zur Grenze hin und zurück, die begleitet werden von Schlachtrufen vom begeisterten Publikum. Die Hitze war an diesem Abend unerträglich. Wie ich später erfuhr waren es fast fünfzig Grad. Allein Sitzen war ein Akt. Bevor es losging haben sich wieder etliche Jugendliche mit mir fotografieren lassen. So langsam habe ich das Gefuehl, das wäre eine gute Einnahmequelle als Tourist in Indien. Andererseits ist es auch ganz angenehm für mein Künstlerego, hin und wieder im Mittelpunkt zu stehen. Auf der Rückfahrt habe ich mir ein Taxi mit einem indischen Paar geteilt. Beide waren sehr offen und interessiert an Deutschland. So hatte ich auch die Gelegenheit, etwas mehr über Indien zu erfahren. Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, ist aber in so einem großen Land wie Indien nicht wirklich zu kontrollieren. Daher ist der Staat sehr bemüht, diese zumindest einzudämmen. Vor allem durch kostenlose Bildung, um den Eltern einen Anreiz zu geben, ihr Kind nicht für sich arbeiten zu lassen und stattdessen zur Schule zu schicken.
Das Stadtbild in Amritsar unterscheidet sich nicht sehr von dem Delhis. Der Verkehr ist laut und chaotisch und die Straßen sind vollgestopft mit Menschen, die sich alle mit einem Lächeln durch ihren Alltag schlagen. Gerade vor dem ‚Golden Temple‘ stehen viele Bettler. Kinder und alte Leute verkaufen einfache Turbane für die Besucher, die so aussehen wie die Pionierhalstücher in der damaligen DDR. Ein Junge steht jeden Tag mit seinem blinden Großvater vor dem Tempel und bittet um Almosen. Was für ein Leben. Sowohl für den Jungen, der mich immer beschämt anguckt, wenn er um eine Gabe bittet, als auch der alte, blinde Mann, der sich seinen Lebensabend sicherlich auch etwas anders vorgestellt hat, als stundenlang hinter seinem Enkel hergezogen und vorgeführt werden wie ein Stück Vieh auf dem Jahrmarkt. Szenen wie diese sieht man in Indien überall. Menschen ohne Zähne, Menschen mit verkrüppelten Füßen, die auf allen Vieren kriechen oder auf einem Skateboard vorbeirollen, Alte mit Krücken, die die Straße entlanghumpeln, Verkäufer, die frittierte Mehlspeisen oder verdünntes Softeis anbieten, hagere Fahrradrickshahfahrer, die sich in glühender Hitze die staubigen Steigungen hochkämpfen und dabei zwei dicke, faule Touristen im Schlepptau haben. Alles wirkt trotz der Hektik sehr entpannt. Nach nur knapp drei Wochen hat Indien schon einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, so dass ich mir mit meinen Problemen oft lächerlich vorkomme.
Wer es hier in Indien allerdings am schwersten hat, sind die Lastenpferde und Esel, die bis aufs Blut geschunden werden. Soviel verzweifelte und hoffnungslose Blicke habe ich auf meinem Reiterhof in Bergen an der Dumme nie gesehen. Bis auf die gemästeten, heiligen Kühe wirken in Indien alle Tiere heruntergehungert bis auf die Knochen. Besonders die Straßenhunde sehen immer so aus, als würden sie jede Minute vor Erschöpfung zusammenbrechen. Herrenlos, ausgehungert, irren sie orientierungslos durch die Gassen. Auch kein schönes Karma.
Gestern Abend habe mich mir meine erste fette Käsepizza gegönnt. Das ‚Domino’s‘ Zeichen in der Hauptstraße vor meinem Hotel wirkte wie eine Offenbarung, als ich völlig erschöpft von der Grenzzeremonie kam. Dazu gekühlte Pepsi Cola, drei Folgen von ’30 Rock‘ und der Abend war perfekt.
Langsam nähert sich mein quasi Kurztrip dem Ende zu und als Fazit kann ich noch einmal betonen, was ich schon geschrieben habe: Indien ist ein sehr relgiöses, friedliches und vor allem demütiges Land, in dem das soziale Miteinander und die zufriedene Leichtigkeit der Menschen über dem harten, monotonen Alltag stehen. Die Inder leben in völligem Einklang mit sich und der Welt. Hier ist die Verbindung zum Göttlichen noch viel selbstverständlicher und stärker als in der westlichen Welt, die im Gegensatz dazu, oft Angst erfüllt und losgelöst von der Schöpfung scheint.