Gestern war ich in Agra, dem Ort, an dem das berühmte Grabmal Taj Mahal (zu deutsch: großer Palast) steht. Erbaut Anfang des siebzenten Jahrhunderts vom damaligen Kaiser, um dem unerwarteten Tod seiner Ehefrau bei der Geburt ihres vierzehnten Kindes zu Gedenken. Der Bau dauerte über zwanzig Jahre und es waren mehr als zwanzigtausend Menschen beteiligt. Es erinnert ein wenig an den Pyramidenbau der Ägypter. Dem Architekten wurden danach als Dankeschön beide Haende abgehackt und damit er nirgendwo in der Welt ein vergleichbares Bauwerk erschaffen konnte. Das Taj Mahal besteht aus weißem Marmor und ist versetzt mit Edelsteinen aus aller Welt. Durch die verschiedenen Farben der größtenteils lichtdurchläßigen Edelsteine, besonders Feuerstein, leuchtet der weiße Marmorpalast bei Vollmond, bei Sonnenauf- und untergang in jeweils drei verschiedenen Farben. Es lohnt sich also mehr als einmal, dort hinzureisen. Ich fand das Bauwerk schon durch seine schlichte Eleganz sehr überwältigend. Die Kunst den Marmor mit Edelsteinen zu versetzen ist eine persische Kunstform und wird seit Jahrhunderten nur innerhalb von Familien weitergegeben. Weltweit gibt es die Kunst nur noch in Agra und wird von circa vierhundert Familien betrieben. Aus diesem Grund werden alle Manufakturen vom Staat unterstützt sowie auch die Teppichwebereien. Man bekommt hauptsächlich Teetische in jeglicher Form zu kaufen. Es gibt natürlich auch kleinere Accessoires wie Schmuckschatullen oder Untersetzer. Alles wir handgefertigt. Um nur einmal einen Eindruck zu bekommen wie lange die Fertigung eines 60×60 cm Teetisches dauert: zwei Personen brauchen fünf Monate bei zwölf Stunden Arbeit pro Tag und einer Sechs-Tage-Woche. Das Handwerk hat mich sehr beeindruckt. Gerade weil man etwas schafft, das Bestand hat und einen über viele Jahrhunderte überdauern wird. Dazu kommt, dass Marmor ein an sich geniales Material ist. Edel, schlicht, lichtdurchläßig (d.h. man kann es abends auch als Lampe benutzen), kratzfest und Hitze- und Wärme beständig.
Der Reise nach Agra war spannend. Vier Stunden Zugfahrt bei zweihundert Kilometern ist nicht gerade die schnellste Art zu reisen, aber dafür konnte ich viel vom Land sehen. Die Bahnhoefe sind so heruntergekommen wie die Häuser in Indien. Überall campieren ganze Familien, es gibt Trink- und Essensstände umgeben von einem süßlichen Uringgeruch. Einige Leute wandern an den Gleisen entlang, um eine Abkürzung zu nehmen, andere springen aus den fahrenden Zuegen, um Zeit zu sparen und andere wiederum kacken genüsslich aufs Gleis. Es ist halt alles etwas unbeschwerter und entspannter als in Deutschland. Dafür aber auch chaotischer und unhygienischer. Auf dem Weg hin zum Bahnhof bin ich wieder vorbei an bettelnden Menschenmassen und Rickshahfahrern, die penetrant ihre Dienste anbieten und habe nun zum ersten Mal behinderte Menschen gesehen, die nicht in Rollstühlen fahren, sondern auf ihren Knien kriechen, weil ihre Füße verkrüppelt sind oder nur mit einer Krücke humpeln, weil ihnen ein Fuss fehlt. Und dort sitzt dann keine Prothese, sondern nur ein vergilbter, versiffter Verband, der so aussieht, als ob er vor zwei Wochen provisorisch in der Notaufnahme angelegt und seitdem auch nicht mehr gewechselt wurde. Trotzalledem tragen hier alle ihr Schicksal mit Würde und niemand beschwert sich. Selbst die blinden Bettler haben immer ein Lächeln auf ihren Lippen.
Agra selbst ist eine alte, gewachsene Stadt. In seiner Architektur noch viel einfacher und archaischer als Delhi. Man sieht überall alte Baracken und ruinenhafte Häuser, die eingebettet sind in endlosen Müllbergen. Kühe, Ziegen und Schweine sind in der ganzen Stadt verstreut. Ob nun auf Plätzen, in kleinen Seitengassen oder direkt vor Haustüren. Das Miteinander Leben bezieht sich hier also auch auf die Tiere. Zum Teil erinnert mich die Bauart der Gebäude ein wenig an Mexiko. Im Ortskern findet man das Leben in seiner Urform. So wie man es auch noch oft im südlichen Teil von Europa sieht. Händler tauschen ihre Ware, Schmiede beschlagen Pferde, Frauen verkaufen gewebte Kleider und Kinder spielen Gameboy. Natuerlich gibt es weiterhin die surrealen Momente, besonders wenn auf einmal neben dem alten Imbissstand ein ‚Terminator Salvation‘ Plakat hängt. Das hätte sich Christian Bale wohl auch nicht träumen lassen. In einer indischen Kleinstadt verewigt zu werden, wenn auch nur temporär. Läden- oder Reklameschilder gibt es kaum. Stattdessen wird alles direkt an die Wände gemalt. Angefangen von ‚Pepsi‘ Werbung bis hin zu Hotelnamen. Indien ist durch seine skurillen Momente und seine Farben super fotogen. Es muss für alle Fotografen das gelobte Land sein. Ähnlich wie Afrika und Asien. Ich kann mich gar nicht richtig satt sehen und würde am liebsten jeden Minute ein Foto machen.
Die aufdringlichen Straßenhändler bleiben natürlich auch in Agra nicht aus. An jeder Ecke wird man angequatscht. Selbst die Leute, die einen nur freundlich begrüßen wollen, weil sie sicherlich selten großgewachsen Europäer in ihrem Viertel sehen, ziehen einem dennoch immer Energie ab, auch wenn sie nur kurz ‚Hallo‘ sagen und wenn sie Englisch sprechen, nuscheln so, dass man kaum ein Wort versteht. Zudem kommt noch die ständige Hitze von vierzig Grad. Ich war also gestern Abend super groggy und ausgelaugt vom Tag. Um etwas zu entspannen, habe ich indisches Fernsehen geguckt. Es wirkt wie eine Parodie auf das TV Programm in der westlichen Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Sprache oder an der dilettantischen Machart liegt. Oder an beidem. Zweiundachzig Kanäle und nur Müll. Es ist, als ob man einundvierzigmal FAB und den offenen Kanal zur Auswahl hat. Außerdem sind die Filme, die nicht aus Bollywood kommen so asynchron synchronisiert, dass jedes Drama automatisch zur krassen Komödie wird.
Was schade ist, dass ich mittlerweile immer misstrauischer werde, wenn mich jemand auf mich zukommt und fragt, ob er mir helfen kann. Denn zu oft sind selbst die Rickshafahrer nur daran interessiert, mir irgendetwas aufzuschwatzen oder mich irgendwo hinzubringen, wo sie voraussichtlich Prozente bekommen. Als ich heute nur zehn Minuten vom Bahnhof zurück zum Hotel gelaufen bin, haben mich allein drei verschiedene Leute auf der Straße angesprochen und dreist ausgefragt. Es ist als ob ich ein Schild auf dem Rücken trage, das sagt: ‚Annoy Me!‘.