Surreal India

So eine Hitze wie hier, habe ich noch nie erlebt in meinem Leben. Vierzig Grad im Schatten und schwül. Zwischen zwölf und siebzehn Uhr braucht man eigentlich nicht das Haus zu verlassen. Es ist dermassen heiß, dass mir, nachdem ich gestern aus dem klimatisiertem Auto gestiegen war, schon nach zwanzig Minuten schwindelig geworden ist. Bis jetzt bin ich auch noch nie vor zwei Uhr nachts ins Bett gekommen und wenn ich schlafe, dann nicht besonders fest. So befinde ich mich die meiste Zeit in einem somnambulen Zustand. Ich weiß noch nicht, ob es die ständige Hitze oder der penetrante Lärm des Deckenventilators und der Klimaanlage ist, die mich keinen Schlaf bekommen lassen. So oder so, alt werde ich in Indien nicht werden. Das heiß-feuchte Klima mochte ich schon in Hong Kong und Singapur nicht. Ich habe ständig das Gefühl, nicht richtig durchatmen zu können, da es nur vom Backofen in den Kühlschrank geht und zurück, aber nchts dazwischen. Zudem hat mich nun auch die Diarrhoe erreicht. Ich dachte schon, ich würde als medizinisches Wunder zurückkehren. Mittlerweile wird der Urlaub nun doch langsam zum Abenteuer Trip, dazu muss ich nicht einmal mein Hotel verlassen. Seit meiner Ankunft werden hier sämtliche Bäder renoviert, mit andeen Worten von früh Uhr morgens bis zum späten Abend schlägt immer jemand mit einem stumpfen Meißel Löcher in Keramikwände. Dazu wird regelmäßig das Wasser abgestellt. Die anderen Hotelgäste schein da genügsamer zu sein. Von mir haben sie inzwischen allerdings schon ein Foto an der Rezeption. Der einzig ruhige und wirklich gekühlte Ort ist das Internetcafe, ohne das ich hier wohl nicht überleben würde.
Die letzten Tage haben Sim und ich vorwiegend Moscheen, Tempel und Grabmäler verstorbener Könige besucht. Also eine gewisse Religiösität kann man den Indern zumindest nicht absprechen. Selbst das Hotel, in dem ich wohne, gehört zum YMCA Verbund. YMCA steht fuer Young Men’s Christian Association. Das ganze Hotel ist daher auch voller Jesus Schreine und es gibt sogar einen Buchladen, der nur auf christliche Literatur spezialisiert ist. Angefangen von Kinderbüchern bis hin zu ‚Jesus Loves You‘ Aufklebern. Dem Kitsch sind da keine Grenzen gesetzt.
Heute war ich zum ersten Mal allein unterwegs in der Stadt und war gleich wieder erschlagen von der Armut dieses Landes. Die Menschen werden mir hingegen immer sympathischer. Die Inder sind sehr vom Herzen kommende, hilfsbereite und gütige Menschen und wirken durch ihre offene, freundliche Art oft noch wie Kinder. Anstrengend sind nur die gierigen Ricksha Fahrer und aufdringlichen Straßenhändler, die einen permanent zutexten und auch nicht von der Seite weichen. Inzwischen kenne ich schon einige der Maschen. „Sir, I’m not begging, I’m a student. Do you want me to show you the shopping center? Just give me five rupies. Why are you angry with me?“ Also das Beste ist: Ignorieren und nie antworten und wenn dann nur mit einer Gegenfrage. Das ständige Abwehren der Verkäufer ist für mich als gutmütigen Hasen jedoch gar nicht so einfach, aber da muss ich wohl noch lernen, ein bisschen bestimmter werden.
Gestern war ich zum ersten Mal im Hotelgym. Es gibt wohl nichts angenehmeres als im Sommer bei vierzig Grad alte, schwere Hanteln zu stemmen. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, was anstrengender war, die Arnold Hanteln aus den sechziger Jahren oder die indische Popmusik im Hintergrund zu ertragen. Trotz Entwicklungslandstatus lieben die Inder eines und das ist die Bürokratie. Für jede Sache bekomme ich eine Quittung ausgestellt, für die Internetnutzung, für meinen Zimmerwechsel, für jedes Frühstück und jedes Abendessen. Vielleicht sehen sie das als ersten Schritt zur Industrienation. Was auch auffällig ist, dass man in Indien kaum Frauen auf der Straße sieht, es sind fast nur Männer. Vielleicht ist es ein Teil des Hinduismus oder einfach nur die Folge von all den Ultraschalluntersuchungen, die gemacht werden, um den hohen Mitgiftszahlungen der Familie von Seiten der Ehefrau aus dem Weg zu gehen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind zum größten Teil noch sehr archaisch. Bei den meisten Tempeln sind am Eingang Schießtände mit aufgestapelten Sandsäcken und Soldaten mit Maschinengewehren positioniert. Und selbst vor einigen Banken steht das Sicherheitspersonal mit einem Gewehr am Anschlag.
Jetzt wo ich hier jeden Tag von Indern umgeben bin, sehe ich auch Sim mit völlig neuen Augen. Er sieht zwar aus wie ein Sikh, hat mit dem Land aber nicht viel gemeinsam. Viele der Sehenswürdigkeiten seines Landes hat er selbst noch nie gesehen. Er ist eher ein europäisierter Inder aus previligiertem Haus, der gerade Urlaub bei seinen Verwandten in Neu Delhi macht.
Wie schon erwähnt ist das Land wirklich sehr arm. Man kann es mit Afrika vergleichen. Menschen schlafen auf der Straße, einige grillen Maiskolben auf dem Boden, andere verkaufen Wasser aus großen Behältern, andere bieten gekühlte Mangoscheiben an. Jeder hat seine kleine Nische. Supermärkte wie wir sie kennen, gibt es in Delhi nicht. Maximal kleine Lebensmittelläden und selbst diese sind rar. Gestern waren Sim und ich mit Gwen und Erin, zwei amerikanischen Studentinnen unterwegs, die auch im YMCA wohnen. Nach einem langen Tag in der Hitze, vorbei an hunderten von Ruinen, erschien uns plötzlich wie aus dem Nichts eine Costa Franchise Coffee Bar im westlichen Standard. Die wirkte so surreal wie ein indischer Lebensmittelladen am Tauentzien. Wie eine Filmkulisse in einer ausgebombten Stadt. Für zehn Minuten fühlten wir uns wieder wie zu Hause. Der Kontrast der westlichen Welt zur indischen wirkt immer sehr krass. Ob nun Benetton und Reebok Läden in der City oder der neue Transformers Film, der hier inmitten lauter Bollywood Streifen auf Hindi läuft. Kino hat in Indien sowieso einen sehr großen Stellenwert. Die stundenlangen Bollywood Filme mit Tanz- und Gesangseinlagen sind sicherlich jedem bekannt. Ich habe diesen Kult nie ganz verstanden. Jetzt wird mir aber langsam klar, dass diese Filme für viele hier der einzige Weg sind, ihrem tristen, grauen Alltag zu entfliehen. Die meisten Inder arbeiten zehn bis zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und sind froh wenigstens abends für eine kurze Zeit in eine perfekte Welt zu flüchten. Je länger, desto besser. Kino kostet auch kaum etwas. Tickets bekommt man schon ab fünfzig Rupien, also ungefähr ein Euro. Ein weiterer Eindruck ist, dass Delhi riesig und extrem unüberschaubar ist. Da es keine wirklichen Straßenschilder und kaum Ampeln gibt, fühlt man sich hier als Europäer auf den ausuferenden, großen Straßen leicht verloren. Zum Teil wirkt Delhi wie ein Dschungel, aber nicht wie eine Hauptstadt. Besonders wenn wieder Affenfamilien und Rudel von sträunenden Hunden die Hauptverkehrstraße überqueren. Gestern ist sogar ein Mann mit einem Elefanten über die Autobahn gelaufen. Wie schon gesagt, viele alltägliche Szenen wirken hier sehr surreal.