Among Freaks

Heute war die Deadline für die Abgabe unserer letzten Essays und schon ist ein spannendes, lehrreiches Schuljahr vorbei. Jetzt stehe ich vor dem lang gefürchteten großen, schwarzen Loch. Wenigstens geht es erst einmal für eine Woche nach Berlin und danach zu Sim nach Indien. Ansonsten bleibt hier jeder Tag eine Überwindung und ich bin immer für jede Abwechslung dankbar. Heute war ich nachmittags zur Impfung im NHS Health Centre. Zwei Spritzen gegen Typhus, Diphterie, Hepatitis A, Polio und Tetanus. Dazu gab es noch einen Katalog mit Dingen, die ich zu beachten habe, wenn ich vor Ort bin wie kein Wasser aus Wasserhähnen zu trinken, keine Eiswürfel im Drink haben, kein Eis essen, die Hände vor jedem Essen zu desinfizieren. Zudem muss ich mir Tabletten gegen Malaria kaufen, Salztabletten gegen Durchfall, der zu 90% kommen wird und ein Anti-Moskito Spray und das alles für nur knapp drei Wochen Urlaub. Ich habe das Gefühl, ich fahre in eine Leprakolonie. Kein Wunder, dass viele in den Sommerferien lieber zu Hause bleiben und sich dann abends gemütlich ‚Slum Dog Millionaire‘ anschauen. Ich freue mich auf jeden Fall schon. Endlich einmal raus aus meinem fünf Quadratmeter Zimmer, weg von meinen Neurosen. Mittlerweile habe ich herausbekommen, dass ich wohl unter OCD (Obsessive Compulsive Disorder). Man könnte es aber auch TMDTMM (Too Much Downtime Too Much Money Disorder) nennen. Auf jeden Fall merke ich, dass bei mir in meinem Zimmer alle Sachen einen ganz festen Platz haben und in Symmetrie stehen muessen. Außerdem kann ich immer nur eine bestimmte Anzahl Anziehsachen besitzen, die sich in der Regel auch nur durch Farbe, aber nicht durch Schnitt oder Größe unterscheiden dürfen. Sobald ich etwas neues kaufe, muss ich meine alten Sachen weggeben. Wenigstens freut sich Sim, der inzwischen seine Garderobe verdoppelt hat. Wieder ein Beweis dafür, dass jeder Altruismus auf purem Egoismus basiert. Ich bin zumindest nicht allein mit meinen Macken. Mein indischer Nachbar, der mit dem ich vor einer Woche zum ersten Mal seit zehn Monaten mein erstes Gespräch hatte und auch nur weil er eine Sicherung brauchte, hat sein ganz eigenes Klopfritual, wenn er nachts um 1 Uhr von seiner Taxi Tour kommt. Und zwar zieht er abwechselnd an den beiden Türklinken an jeder Seite seines Autos und klopft danach dreimal an die darüberliegende Fensterscheibe. Das hört sich dann so an: ‚Tschak, Tschak, Dumm, Dumm, Dumm‘. Das Ganze kommt insgesamt fünfmal auf jeder Seite seines Wagens. “He is a selfish bastard!” Wie Sim gleich erkannt hat. “Yes, selfish and weird!” würde ich eher sagen und ein Bruder im Geist.
Meine Essays habe ich vorwiegend in Cafés geschrieben. Die gibt es hier wie Sand am Strand. Nero, Starbucks, Costas. You name it. Mir ist inzwischen aufgefallen, dass die Angestellten dort in der Regel immer etwas angespannt wirken und ihnen ihre zugegebenermaßen nicht allzu anstrengende Arbeit nicht wirklich Spaß zu machen scheint. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es zu neunzig Prozent Osteuropäer sind, die sich sicherlich etwas besseres vorgestellt haben, als für fünf Pfund die Stunde Kaffee und Kuchen zu servieren, als sie den Schritt in die große, weite Welt gewagt haben. Ehrgeiz und Billiglohn Jobs sind nicht die beste Kombination, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen. Ansonsten bin ich weiterhin fast jeden Tag in der Post, um mein Ebay Business am Laufen zu halten. Die Briten haben hier ein nicht besonders ausgefeiltes Nummernsystem, wenn man vor den Schaltern wartet und zwar werden die Nummer nicht nur angezeigt, sondern auch angesagt. Und das in krasser Lautstärke. Es kann dann sein, dass in einer Minute ungefähr zwanzigmal die gleiche Nummer aufgerufen wird. “Number 240, Number 240, Number 240…”.
Morgen ist der große End of Term Gig. Ich werde diesmal nicht spielen, freue mich aber schon wie Bolle. Danach gehen dann alle wieder getrennte Wege. Es war eine wirklich schöne Zeit und ich werde viele meiner Kommilitonen vermissen. Besonders Jess und Charlotte, die alle mit ihrer natürlichen Egozentrik immer gut bei der Stange gehalten haben. Oder Loki mit seinen unerwarteten Stand-Up Comedy Einlagen, nur getoppt von Cliff, der jede seiner Vorlesungen zu einer One-Man Show gemacht hat. Künstler. Teilweise anstrengend, dafür aber oft auch lustig und unterhaltsam.