Male Energy

Gestern war wieder einmal ein Tag. Ohne Worte. Jeder Schritt eine Überwindung und wieder das Gewicht der ganzen Welt auf meinen Schultern. An solchen Tagen spüre ich meine Ängste in jeder Situation. Eigentlich sind sie immer da, nur an Tagen, wo ich gut gelaunt bin, kann ich mich besser mit ihnen arrangieren. So nun also auch gestern, wo ich vormittags zu einem Tutorium im Apple Store war, danach kurz in der Schule und abends im Fitnessstudio und mir wurde wieder einmal klar: Zuviel männliche Energie ist anstrengend. Der Apple Store ist komplett Männer dominiert, vielleicht weil es ein Fachhandel für Computer ist und man entweder Frauen nicht zutraut, dort zu arbeiten oder diese vielleicht aber auch einfach keinen Bock haben, acht Stunden mit Nerds abzuhängen. Mein College besteht eigentlich nur aus Typen. Die Quote ist eins zu zwanzig, getoppt noch dadurch, dass im künstlerischen Bereich vorwiegend unsichere Egos aufeinanderprallen. Die Dozenten eingeschlossen. Am krassesten ist immer der Live Performance Workshop am Donnerstagmorgen, bei dem dreißig junge, unsichere Musiker und vier ältere, unsichere Musiker für zwei Stunden miteinander eingesperrt sind und gezwungen sind, zusammenzuarbeiten. Die Krönung sind dann noch meine wöchentliche Besuche im Fitnesstudio, das das sportliche Equivalent zu meinem College ist, nur das hier die Leute probieren ihr Ego durch Muskelmasse und nicht durch clevere Popsongs aufzupumpen. Aber eigentlich mag ich die harten Tage. Die Tage, an denen ich mit Instrument und schwerer Tasche bepackt mit meinem alten Mountainbike mehrere Kilometer bergauf durch den strömenden Regen fahre. Für mich stehen diese Momente für den täglichen Kampf im Leben. Aber es gibt auch die erfüllten Tage. Wenn ich wie jetzt eine längere Zeit im Ausland bin, merke ich, dass ich nicht allein in dieser Welt bin und sich vieles fügt. Das sind dann oft die kleinen Dinge im Alltag wie spontane Verabredungen, unerwartete Gefallen oder auch aufbauende Worte von Leuten, die man kaum kennt.
Wie schon in meinen vorherigen Newslettern erwähnt, strotz England nicht gerade vor schönen, schlanken Menschen. Besonders die Frauen gehen hier auf wie Hefekuchen. Als ich neulich wieder im Supermarkt war und von der Dame vor mir, die gerade ihren Mittagstisch einkaufte, fast zerquetscht wurde, wurde mir klar, warum hier die meisten aussehen wie die Frauen bei Al Bundy im Schuhladen. Auf dem Laufband war: ein in Mayonnaise getränkter Kartoffelsalat, eine Packung Fertigpasta, Kartoffelchips und Donuts mit Smarties Streusel. Da fehlte nur noch die ein Liter Colaflasche und mein Bild wäre perfekt gewesen. Aber trotz Übergewicht und Reserviertheit sind die Engländer mir sympathisch. Zum einen, weil sie nicht so krampfig sind wie die Deutschen, aber vor allem weil sie Respekt voreinander haben. Das ist mir besonders aufgefallen, als ich vor ein paar Tagen eine Hauptverkehrsstraße entlanggegangen bin, auf der mitten auf dem Bordstein ein Müllwagen parkte und als der Müllmann sah, dass ich mich an seinem Auto vorbeidrängte, er gleich angerannt kam und sich vielmals dafür entschuldigte. Ein paar Meter fuhr eine Frau aus einem Parkhaus und und versperrte den Fußgängerweg. Als sie sah, dass ich kurz stoppte, kurbelte sie ihr Autofenster herunter und entschuldigte sich sofort bei mir. Auch wenn Leute aus dem Bus aussteigen, bedanken sich viele beim Busfahrer.
Der gegenseitige Respekt kommt sicherlich daher, dass England aufgrund seiner Kolonien ein wirklich multikulturelles Land ist und jeder, weiß, dass hier alle im selben Boot sitzen und nicht wie in pampered Germany, in dem sich viele in ihren Enklaven verschanzen. Und da beziehe ich alle mit ein, ob nun René aus Marzahn oder Ali aus Neukölln, die bestimmt nicht so einen Dicken schieben würden, wenn neben ihnen, arabische, indische und afrikanische Familien leben würde.
Sim ist gut drauf. Jetzt, wo er erfahren hat, dass er zum IT Studium einen GCSE Abschluss (vergleichbar mit unserer mittleren Reife) in Englisch braucht, hat er wieder Zeit gewonnen und kann sein Leben noch etwas aufschieben. Ich hatte auch das Gefühl, dass er in den letzten Wochen eigenlich gar nicht nach einem passenden Studium gesucht hat, sondern vielmehr nach einem Vorwand, nicht zu studieren. Der Druck von seinen Eltern muss immens sein. Gerade als indisches Einzelkind aus der oberen Schicht, wollen diese natürlich, dass er eine solide Ausbildung bekommt. Filipe hat ihn auch gleich durchschaut: “Der ist wie du vor 10 Jahren. Der hat die Hosen voll. Glaubst du, der könnte als Diplomatensohn in Delhi in einem Billigsupermarkt arbeiten und sich mit der der Lower Working Class abgeben?“ Ich hab‘ jetzt auf jeden Fall vor, Sim im Sommer zu besuchen. Das Visum ist schon beantragt.
Die Uni läuft nun wieder seit einer Woche und das Schöne ist, dass ich nach vier Wochen Pause meine Kommilitonen und Dozenten auf einmal mit ganz anderen Augen sehe. Als wir am letzten Mittwoch über die Ursprünge von ‚Grunge‘ gesprochen haben und alle bemüht waren, ihr gesamtes Musikwissen Kund zu tun, wurde mir bewusst, dass unsere Lehrer auch nur groß gewordene Kinder sind, die ständig um Aufmerksamkeit buhlen. Ob nun Kieron, der eigentlich jede Band kennt, die jemals einen Song aufgenommen hat: “Yes, the Pixies were a massive influence for bands like Nirvana but there were other great bands around at that time like Primal Scream, Cocteau Twins, Soup Dragon, Mud Honey, Killing Joke, Throwing Muses, Breeders and Sonic Youth.“ Oder Andi, der dir bei jeder Aufnahme sagen kann welches Gitarren- oder Bassmodell verwendet wurde: “Yes, for the chorus they used a Fender Precision bass, but not the original, the 62′ reissue!“
Meine Abende haben sich nicht groß verändert. Wenn ich nicht gerade im Internet surfe oder ins Kino gehe, bastle ich weiter an meinen Songs. Meine Mitbewohner hingegen, hängen jede freie Minute vor der Glotze. Vormittags Sportsendungen und Talkshows und abends die obligatorischen Casting Shows. Es ist schon erschreckend wie oberflächlich unsere Welt geworden ist, wenn hier als Samstagabend Blockbuster “Britain’s Next Top Model“ läuft. Ein komplette Sendung, dessen einziges Ziel es ist, jungen Mädchen zu suggerieren, so aussehen zu müssen wie zwei Prozent der Weltbevölkerung. Aber Schönheitschirurgie ist mittlerweile salonfähig geworden. In Bristol findet man Flyer wie: “Give your self-esteem a boost: plastic surgery.“