Am Mittwoch hatte ich wieder Bandprobe mit Dominic im Madhouse in Birmingham. An den Wänden findet man Poster von NIrvana und Metallica und im Hintergrund läuft Musik von 90er Grunge Bands wie Ugly Kid Joe und Pearl Jam. Die Angestellten sind langhaarig, tätowiert, komplett in schwarz gekleidet (natürlich Jeans und Heavy Metal Band T-Shirt) und nutzen jede freie Minute, um sich draußen eine Zigarette zu drehen. Nur die Proberäume sind mit Abstand die saubersten, in denen ich bis jetzt gewesen bin. Selbst die Dockside Studios in Bristol, wo die Stunde umgerechnet fünfzehn Euro kostet, erfüllen jedes sonstige Cliché: versifft, stickige Luft, vom Schweiß zerfressende Wände mit einem verschmierten Fenster, das sich nicht öffnen lässt und dazu ein vor sich hin gammelndes Ambiente, was aber eh nur aus einem Stuhl und einer Gesangsanlage besteht.
In unserer Pause sind wir wieder einmal auf die englischen Charts zu sprechen gekommen und mir ist aufgefallen, dass der Untergang des Abendlandes noch lang nicht erreicht ist. Noch vor ein paar Jahren hatte man unter den Top-10 Hits zumindest zur Hälfte etablierte Künstler, die für ein gewisses Maß an Authenzität und Qualität standen. Klar, gab es schon immer die klassischen One-Hit-Wonder, aber mittlerweile dominieren diese die kompletten Top-10. Es ist wie eine Art Parallelwelt zur restlichen Musikszene, die geschaffen wurde, um Radio One (BBC Radiostation für Mainstream) zu bedienen. Popmusik ist zu einem reinen Füllprodukt geworden. Die Songs werden immer berechenbarer und die Struktur hat sich inzwischen auf ABABB minimiert. Bridges (Übergang zum Refrain) und Middle 8s (dritter Teil eines Songs) sind nicht mehr gefragt. Sowie auch das Credo unseres Lieblingsdozenten Cliff heißt: „Don’t bore us get to the chorus.“ Das Ziel eines radiotauglichen Songs ist nicht etwa originell, sondern möglichst unaufdringlich zu sein, so dass der Zuhörer auf keinen Fall den Sender wechselt. Also alles, was in irgendeiner Form polarisieren könnte, sei es durch Originalität oder Langeweile, ist nicht gefragt. Man sucht im Endeffekt das perfekte Mittelmaß. So klingen dann auch die Lieder, denen ich jede Woche in meinem Fitnessstudio ausgesetzt bin. Belanglos bis hin zu nervig. Zum Glück dauert mein Training nur vierzig Minuten, ansonsten wäre es nicht zu ertragen. Aber noch viel erschreckender als die Qualität der Musik ist die Kurzlebigkeit der Interpreten. Künstler, die noch vor ein paar Wochen in den Top 10 waren, kennt mittlerweile niemand mehr. Wer weiß, wer sich im nächsten Jahr noch an ‚Lady Gaga‘ erinnern wird, die gerade Nummer eins in den britischen Single und Album Charts ist.
Kunst ist immer ein Spiegel der Zeit und derzeit der Spiegel einer schnelllebigen, konsumorientierten Gesellschaft, in der sich jeder selbst am nähesten ist. Oder wie IAMX in einem seiner Lieder singt: “We all want to fuck ourselves and rape the world.“ Gerade die junge Generation hat kein Bewusstsein mehr für Musik als Kulturgut. Wenn ich daran denke, dass ich zu meinen Schulzeiten zweimal im Jahr Geld bekam, von dem ich mir aufs Jahr verteilt vielleicht fünf Platten und vier Maxell Chromdioxid II Kassetten kaufen konnte, die natürlich vorher monatelang ausgesucht wurden. Die restliche Musik wurde dann entweder mühevoll aus dem Radio aufgenommen oder von Freunden überspielt. Heutzutage zieht man sich halt eben zehntausend Songs aus dem Netz, ohne die Bands überhaupt zu kennen. Kein Wunder, dass da die Wertschätzung flöten geht.
Die CD als Gesamtkunstwerk hat schon seit langem ausgedient. Kaum einer ist mehr am Cover Artwork interessiert oder an den Texten. Auf diese Weise verkommt Musik immer mehr zur Massenware und das zieht sich sich durch alle künstlerischen Bereiche. Angefangen von CDs, über DVDs bis hin zu Büchern. Es gibt nichts traurigeres als die Buchabteilung hier im Großsupermarkt Morissons (etwa vergleichbar mit Real), in dem neben der Tupperware und den Bratpfannen die Buch Bestseller der letzten Wochen stehen. Kurz vor der Kasse, direkt neben den Schokoriegeln, findet man dann noch Schütten mit etlichen Best-Of CDs, die die Welt nicht braucht. Da wundert es mich nicht, dass der Einzelhandel langsam zusammenbricht und alle Geschäfte zu einem einzigen Franchiseknäuel zusammenpappen. Eigentlich befinden wir uns im Zeitalter der Dauermasturbation. Jeder ist nur noch am schnellen und billigen Konsum interessiert. Selbst die Pornosuche hat sich durch das Internet extrem vereinfacht. Vorbei sind die langen, nächtlichen Irrfahrten auf der Suche nach Videotheken in Randbezirken und die schweren Gänge zurück am nächsten Tag, geplagt von der Angst, dass nicht der schlurfige Nerd, sondern das blonde Babe an der Kasse steht. Es wird nicht mehr bewusst gelebt. Man kommt nach Hause, schmeißt sich eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle und guckt später einen heruntergeladenen Film. Alle leben die bequeme, permanente Ablenkung. Wenn ich zu Sim ins Zimmer komme, läuft ständig der Fernseher, Musik im Hintergrund, Facebook ist geöffnet, während er mit seiner Playstation Portable spielt und parallel Kurznachrichten verschickt. Gut, das Leben war schon immer eine Ablenkung. Im elektronischen Zeitalter wir diese eben immer mehr perfektioniert und wenn ich da an die neuen Handys denke, ist auch noch kein Ende in Sicht.